Brasilien und sein Recht – ein Interview statt eines Editorials
Brasilien entwickelt sich in festem und gleichzeitig forschem Schritttempo zu einer der Top-Wirtschaftsnationen der Welt, zu einem wahren “global player”. Obwohl es eine lange Tradition der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Brasilien gibt, zeigen sich viele Beobachter in Deutschland, die ihr Augenmerk eher auf den ostasiatischen Raum gerichtet hatten, von der Dynamik Brasiliens überrascht. Anders Professor Dr. Dr. Peter Sester, der Brasilien seit vielen Jahren kennt, die Landessprache spricht (jenes melodisch-weiche Portugiesisch, das sich von dem vernuschelten europäischen Portugiesisch hörbar abhebt) und regelmäßig in Brasilien Rechtsvorlesungen hält. Unlängst ist sein Buch “Brasilianisches Handels- und Wirtschaftsrecht” erschienen, in dem er einen – durchaus vertieften – Überblick über die verschiedenartigen Aspekte des brasilianischen Wirtschaftsrechts vermittelt. Dr. Roland Abele hat für die RIW mit Professor Sester über die zukünftige Rolle Brasiliens in der Welt gesprochen sowie über die Folgen, die sich daraus aus deutscher Sicht ergeben.
RIW: Herr Professor Sester, beginnen wir mit dem Ist-Zustand. Welchen Weg hat Brasilien in den letzten Jahren genommen, und wo wird Brasilien in einigen Jahren vermutlich stehen?
Sester: Brasiliens Wirtschaft hat in den letzten 10 Jahren einen steilen, aber nicht überhitzten Aufstieg erlebt, der sich noch eine Reihe von Jahren fortsetzen wird. Das Land ist klar die dominierende Wirtschaftsmacht in Südamerika und wird sich unter den fünf bis sechs führenden Wirtschaftsmächten (gemessen am BIP) dieser Welt behaupten.
RIW: Stefan Zweig benannte Brasilien in seinem Buch aus den 1940er Jahren als “Land der Zukunft”. Zyniker haben später oft gespottet, ein “Land der Zukunft” werde Brasilien stets bleiben, weil die Hoffnungen und Erwartungen, die in Brasiliens Entwicklung immer wieder gesetzt wurden, sich nie erfüllen konnten. Da hat es offenbar in der jüngeren Vergangenheit einen Wandel gegeben.
Sester: Der entscheidende Wandel begann in den 1990er Jahren mit einer Währungsreform, einer Privatisierungswelle und Liberalisierung der Rechts- und Wirtschaftsordnung. Die Erfolge stellten sich allerdings erst einige Jahre später ein. Brasilien wurde lange als volkswirtschaftliches Versuchslabor betrachtet, aber schließlich haben die Brasilianer aus den “Feldversuchen” gelernt und mit der ihnen eigenen Zuversicht ein funktionierendes Wirtschaftsmodell entwickelt. Zyniker gibt es in Brasilien zum Glück weniger als hier.
RIW: Wo liegt das deutsche Interesse, wenn ich das einmal so formulieren darf, vor dem Hintergrund dieser Entwicklung?
Sester: Deutschland, sein Rechtssystem, seine Unternehmen und die Disziplin seiner Menschen haben in Brasilien einen Ruf wie Donnerhall. Das hängt mit der langen Tradition deutscher Unternehmen, der hohen Qualität deutscher Privatschulen in Brasilien, den vielen brasilianischen Studenten in Deutschland und nicht zuletzt den erfolgreichen deutschen Auswanderern zusammen. Daran kann Deutschland anknüpfen, um jetzt in den 1990er Jahren verloren gegangenes Terrain zurückzugewinnen. Damals hat man sich – anders als die Spanier, Niederländer und Franzosen – hier viel zu sehr auf sich selbst, Europa und vor allem Osteuropa konzentriert.
RIW: Und welche spezifischen Perspektiven könnten sich daraus für deutsche Juristen ergeben?
Sester: Das kommt darauf an, in welcher Rolle man als Jurist arbeitet. Als Praktiker, speziell in der Anwaltschaft, kann man den Investitions- und Akquisitionsprozess begleiten. Als Rechtswissenschaftler, Richter oder Ministerialbeamter kann man die Modernisierung des brasilianischen Rechtssystems beratend begleiten. Speziell das europäische Finanzmarkt- und Wirtschaftsrecht stoßen in Brasilien auf großes Interesse.
RIW: Kann ich brasilianisches Recht in Deutschland lernen, insbesondere brasilianisches Wirtschaftsrecht?
Sester: Schwierig. Anders als in den 1980er Jahren, als Japan im Trend lag, und in den 1990er Jahren, als Russland und China en vogue waren, ist seit der Jahrhundertwende offenbar kein Geld vorhanden, um ein Institut für Brasilianisches Wirtschaftsrecht zu gründen. Es gibt lediglich an der Humboldt-Universität in Berlin eine Vorlesung zum brasilianischen Recht. Am aktivsten in Sachen Brasilien ist allerdings aus dem deutschsprachigen Raum klar die Universität St. Gallen in der Schweiz. Sie hat einen regen Studenten- und Dozentenaustausch sowie ein eigenes Verbindungsbüro in São Paulo.
RIW: Sie sind regelmäßig in Brasilien. Ich weiß, dass Sie das Land sehr mögen. Was ist so faszinierend an der brasilianischen Alltags- und auch Rechtskultur?
Sester: Das ist ein weites Feld. Am Alltag gefällt mir vor allem eine gewisse Leichtigkeit der Menschen, ein geringeres Maß an Neid und die Dynamik aufgrund einer jüngeren Bevölkerung. Faszinierend an der Rechtskultur – speziell aus rechtsvergleichender Sicht – sind die zahlreichen Wurzeln des brasilianischen Rechts, die auch nach Deutschland führen.
RIW: Gewiss gibt es auch Dinge, die Sie nicht so sehr mögen.
Sester: Die Eliten des Landes, speziell im Süden, neigen gelegentlich zu einer gewissen Arroganz gegenüber ihren Landsleuten aus anderen Regionen.
RIW: Ich denke, dass ihr Buch dem deutschen Juristen Brasilien näherbringen wird, und ich hoffe, dass viele Juristen hierzulande diese gute Gelegenheit nutzen werden, sich mit Brasilien und seinem Recht vertraut zu machen. Herzlichen Dank für das Gespräch.
Professor Dr. Dr. Peter Sester