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NUR 2014, 129
Neumann 

Paradigmenwechsel europäischer Regulierungspolitik?

Dr. Karl-Heinz Neumann*

Bereits seit der programmatischen Erklärung der Kommissarin für die europäische Digitale Agenda Neelie Kroes vom 12. Juli 2012 zeichnet sich ein Paradigmenwechsel europäischer Telekommunikationspolitik ab. Kennzeichen dieses Paradigmenwechsels ist die Abkehr vom bisherigen Hauptfokus auf den Wettbewerb auf den Märkten und stattdessen die Fokussierung der Regulierungspolitik auf das Setzen von Anreizen für Investitionen in Verbindung mit einer Abkehr vom Neutralitätsgebot der Regulierung gegenüber den Marktteilnehmern. Regulierungsmaßnahmen, die sich (vermeintlich) positiv auf Investitionen auswirken, wurde der Vorzug vor wettbewerbsfördernden Maßnahmen gegeben. Insbesondere etablierte Betreiber postulieren einen Zielkonflikt zwischen beiden Aspekten der Regulierung und betrachten die aktuelle Regulierung als Investitionsbremse, die es durch einen radikalen Schwenk in der europäischen Telekommunikationspolitik zu lösen gelte.

Die Debatte um investitionsfreundliche regulatorische Rahmenbedingungen fokussiert überwiegend auf die Schaffung und Förderung von Investitionsanreizen für etablierte Betreiber. Maßnahmen wie höhere Risikoprämien für Investitionen in Anschlussnetze der nächsten Generation („Next Generation Access“, NGA), höhere Vorleistungspreise, Abkehr von der Kostenorientierung und mehr Preisflexibilität sollen Investitionsanreize für etablierte Betreiber schaffen. Gleichzeitig verschlechtern sich dadurch die Investitionsbedingungen für Wettbewerber. Diese asymmetrische Fokussierung der Debatte und der erörterten Maßnahmen, wie sich etwa auch an der neuen Empfehlung der Kommission über einheitliche Nichtdiskriminierungsverpflichtungen und Kostenrechnungsmethoden zeigt, ist Ausdruck einer mangelnden Neutralität von Politik und Regulierung gegenüber den Marktteilnehmern. Wettbewerber investieren zumindest in Deutschland absolut mehr und bezogen auf relevante betriebswirtschaftliche Kennzahlen relativ sogar erheblich mehr als der etablierte Betreiber. Insofern ist die asymmetrische Förderung der Investitionsbedingungen für eine Marktseite nicht nur ungerechtfertigt, sondern auch kontraproduktiv für das Ziel der Erreichung eines hohen Investitionsniveaus auf Ebene des gesamten Sektors. Die Umsetzung des Regulierungsziels der Förderung von Infrastrukturinvestitionen muss vielmehr dem Neutralitätsgebot genügen.

Besonders nachteilige Konsequenzen für die deutsche Marktstruktur im Telekommunikationsmarkt wären zu erwarten, wenn sich die Vorstellungen der Kommission zu virtuellen Breitbandzugangsprodukten im Binnenmarktpaket durchsetzen sollten. Mit der Binnenmarktverordnung will die Kommission europaweit einheitliche virtuelle Zugangsprodukte für breitbandige Festnetze auf Vorleistungsebene einführen. Die Kommission verbindet dieses an sich löbliche und der weiteren Markt- und Wettbewerbsentwicklung dienende Anliegen mit Abwägungsregeln für die nationalen Regulierungsbehörden, die das bisherige auf der physischen Entbündelung beruhende erfolgreiche Geschäftsmodell vieler Anbieter völlig in Frage stellen.

Abbildung 1

Die Kommission will demnach die virtuelle Entbündelung, d. h. die Bereitstellung von Bitstromzugangsprodukten, nicht zusätzlich zu den Vorleistungsprodukten der physischen Entbündelung regeln, sondern an ihrer Stelle einführen. Die Pflicht zur Gewährung des Zugangs zur Teilnehmeranschlussleitung, auch am Kabelverzweiger, soll ersetzt werden durch die Pflicht zur virtuellen Entbündelung, d. h. zur Bereitstellung von Bitstromprodukten, die funktional dazu äquivalent sind. In Deutschland hätte eine unmittelbare Anwendung dieses Konzepts zur Konsequenz, dass die Bundesnetzagentur nicht mehr die Auflage des Zugangs zur Teilnehmeranschlussleitung am Kabelverzweiger auferlegen müsste, solange und soweit die Telekom Deutschland GmbH (TDG) die entsprechenden Bitstromprodukte bereitstellen würde. Das Modell des in Deutschland geschaffenen Wettbewerbs in der Nutzung der „Vectoring“-Technologie wäre dahin und der Einsatz dieser Technologie könnte wieder monopolisiert werden.

Es steht zu befürchten, dass die Vorschläge der Kommission bereits jetzt zu Investitionsunsicherheit bei den Marktteilnehmern führen und in Folge zur Investitionszurückhaltung, solange die Vorschläge der Kommission weiter im Raum bleiben und ihnen nicht von Seiten der Regierungen der Mitgliedstaaten und/oder des Europäischen Parlaments deutlich widersprochen wird. Es bleibt zu hoffen, dass sich in den weiteren gesetzgeberischen Beratungen und Entscheidungen die vielen verbalen Bekundungen zum bisherigen Wettbewerbsmodell in entsprechenden Änderungen des Verordnungsentwurfs niederschlagen werden, wie sie das Europäische Parlament in der ersten Lesung zu dem Gesetzgebungsvorhaben am 3. April 2014 nunmehr auch beschlossen hat. Nur dann wird das Wettbewerbsmodell im Telekommunikationsmarkt langfristig Bestand haben.

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Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts für Infrastruktur und Kommunikationsdienste (WIK).

 
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