Mehr Schatten als Licht – der Regierungsentwurf zur Einführung virtueller Hauptversammlungen
Die vollständige Integration der Präsenz-HV in die virtuelle HV geht zu Lasten der Rechtssicherheit und beseitigt teilweise die Vorteile der virtuellen HV.
Das Gute zuerst: Der am 27. April vom Bundeskabinett verabschiedete Regierungsentwurf zur Einführung virtueller Hauptversammlungen (RegE) greift eine ganze Reihe von Anregungen der Fachdiskussion zum Referentenentwurf (RefE) auf. Er beseitigt damit terminologische Unschärfen sowie Unsicherheiten bzgl. des personellen und sachlichen Anwendungsbereichs einzelner Regelungen. Zudem erstreckt er das Freigabeverfahren auch auf die Satzungsänderung, welche die virtuelle Hauptversammlung (HV) ermöglicht; anderenfalls drohende jahrelange Hängepartien werden dadurch vermieden.
All dies ist zu begrüßen und bringt Licht ins regulatorische Dunkel. Leider überwiegt aber der Schatten. Die, wie der RegE selbst hervorhebt, “in den letzten beiden Jahren gesammelten grundsätzlich positiven Erfahrungen” mit der virtuellen HV, die der RefE im Wesentlichen fortschreiben wollte, ignoriert der RegE, indem er die Präsenz-HV in die virtuelle HV zu zwängen versucht, ohne deren Besonderheiten zu berücksichtigen.
Das beginnt beim Fragerecht: Nach der bis 31. August 2022 geltenden Corona-Regelung haben Aktionäre das Recht, vor der HV elektronisch Fragen einzureichen. In der HV selbst besteht weder ein Fragerecht noch ein Rede- oder Auskunftsrecht. Bereits der RefE hatte im Hinblick auf das von ihm vorgesehene Rede- und Nachfragerecht in der HV das Recht auf Fragen vor der HV modifiziert: Der Vorstand konnte solche Fragen vor der HV zulassen, er musste es aber nicht. Der RegE hat es bei der Möglichkeit belassen, verpflichtet aber die Gesellschaft, die Fragen vor der HV zulässt, dann dazu, diese bereits vor der HV zu beantworten und Fragen und Antworten vor der HV zu veröffentlichen. In der HV selbst soll nach dem RegE jeder elektronisch zugeschaltete Aktionär Nachfragen zu allen vorab eingereichten Fragen, den vor und in der Versammlung gegebenen Antworten sowie den in der Versammlung in Redebeiträgen gestellten Fragen stellen können. Konkret bedeutet das: Lässt der Vorstand vor der HV Fragen zu, kann er zwar in der HV die Auskunft auf solche Fragen verweigern, wenn er diese vor der HV bereits beantwortet hat. Er riskiert aber eine nicht vorhersehbare Flut von Nachfragen. Da die Unterscheidung zwischen Frage und Nachfrage in der Drucksituation der HV praktisch kaum rechtssicher getroffen werden kann, wird er sicherheitshalber auch Fragen in der HV eher nochmals beantworten, als sie zurückweisen. Über das vorgenannte Nachfragerecht hinaus soll der Aktionär weitere Fragen zu Sachverhalten stellen können, die sich erst nach Ablauf der Frist zur Vorabeinreichung von Fragen ergeben. Wenn nach all diesen Frage- und Antwortrunden der üblicherweise für eine HV angemessene Zeitraum (RegE: vier bis sechs Stunden) noch nicht überschritten sein sollte, sind auch Fragen zu beantworten, die bis spätestens zum Ende der Frist zur Vorabeinreichung hätten gestellt werden können. All diese Fragen können sowohl elektronisch als auch im Wege der Videokommunikation gestellt werden, es sei denn, der Versammlungsleiter beschränkt sie, wozu man ihm nur raten kann, um hier nicht immer verschiedene Kanäle im Auge haben zu müssen, auf den Weg der Videokommunikation.
Das ist sicher alles fein abgestimmt und wohldurchdacht, rechtssicher ist der Rahmen nicht. Allein um Fragen und Antworten handhabbar zu machen, wird die Praxis auf die Möglichkeit von vorab eingereichten Fragen verzichten, um die Nachfrageflut zu vermeiden. Das bedeutet, dass die durch die Corona-Regelung bewirkte, allgemein anerkannte Verbesserung der Antwortqualität, die dadurch erreicht wurde, dass die Antworten besser vorbereitet werden konnten, droht, wieder zu entfallen.
Wie bei Frage und Nachfrage, so schießt der RegE auch beim Rederecht über das Ziel hinaus. Sieht die geltende Corona-Regel kein Rederecht in der HV vor, so wollte der RefE dieses nur eingeschränkt zulassen und sah hier insbesondere einen Test der Funktionsfähigkeit beim Aktionär vor. Der RegE geht darüber weit hinaus und gewährt ein an keine andere Vorgabe als die der Anmeldung und elektronischen Zuschaltung geknüpftes Rederecht. Den daraus resultierenden Risiken soll durch Anpassung des Anfechtungsrechts Rechnung getragen werden. Eine solche Anpassung mag die Folgen von Funktionsfehlern eindämmen, führt aber nicht dazu, dass solche Funktionsfehler vermieden werden. Ob die heimische IT-Ausstattung des Aktionärs und die HV-Provider sowie die aktuell allemal verbesserungsbedürftigen Übertragungsnetzwerke die HV mit tausenden von Zwei-Wege-Videoverbindungen störungsfrei zulassen, ist schon fraglich. Abzuwarten bleibt auch, ob die bei einer Rede im heimischen Umfeld gegenüber einem Beitrag vor tausenden von Aktionären u. U. niedrigeren psychologischen Hürden zu einer Flut von Redebeiträgen führen. Ob der Versammlungsleiter das wird auffangen können, ist fraglich. Jedenfalls bisher gehörten besondere technische Expertise und der Umgang mit technisch ausgefeilten Video-Übertragungsanlagen nicht unbedingt zum Kompetenzprofil von Aufsichtsratsvorsitzenden.
Es steht zu befürchten, dass diese Schatten des RegE gerade auch den Aktionärsinteressen einen Bärendienst leisten. Vorverlagerung des Informationsaustausches, höhere Antwortqualität, geringere Zugangshürden für die Teilnahme sind nur einige der mit der virtuellen HV verbundenen Vorteile. Dass die Aktionäre diese Vorteile in Zukunft in nennenswerten Umfang genießen können, erscheint auf der Grundlage des RegE unwahrscheinlich.
Dr. Wolfgang Groß (li.), RA, ist Partner der Hengeler Mueller Partnerschaftsgesellschaft mbB am Standort Frankfurt a. M. Er berät Unternehmen und Investoren im Kapitalmarktrecht und zu gesellschaftsrechtlichen Fragen.
Dr. Kai-Steffen Scholz (re.), RA, ist Partner der Hengeler Mueller Partnerschaftsgesellschaft mbB am Standort Berlin. Er berät Unternehmen und Investoren zu gesellschafts- und kapitalmarktrechtlichen Themen.