Professor Dr. Achim Seifert: Entfesselung des Leviathans?
Die Auseinandersetzung um die sog. "Neue Wirtschaftspolitische Steuerung" der EU führt allmählich vor Augen, dass die Maßnahmen zur Bewältigung der europäischen Wirtschafts- und Finanzkrise erhebliche Auswirkungen auf die Sozialpolitik in den Mitgliedstaaten der EU haben. Bei den in den letzten Jahren geschaffenen Regeln über eine europäische "Wirtschaftsregierung" lassen sich zwei Regelungskomplexe unterscheiden:
Zum einen hat die EU 2011 fünf Verordnungen und eine Richtlinie verabschiedet, die landläufig als "Sixpack" bezeichnet werden und im Kern die bereits bestehende jährliche Koordinierung der Wirtschaftspolitik (Art. 121 AEUV) ausweiten. Dies geschieht einmal durch ein Verfahren, das die Entstehung makroökonomischer Ungleichgewichte in den Mitgliedstaaten mithilfe eines Warnmechanismus verhindern oder korrigieren soll (Verordnung [EU] Nr. 1176/2011 über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte). Instrument hierfür sind Empfehlungen, die der Rat gegenüber einzelnen Mitgliedstaaten ausspricht. Ferner sieht die Verordnung (EU) Nr. 1175/2011 eine präventive Kontrolle der Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten vor Verabschiedung der Haushalte vor ("Europäisches Semester"). Auch hier kann die Union durch Empfehlungen Einfluss auf die Politik der Mitgliedstaaten nehmen. Entgegen der allgemeinen Regelung des Art. 288 Abs. 5 AEUV zieht die Missachtung von Empfehlungen im Rahmen der Verordnung (EU) Nr. 1173/2011 und der Verordnung (EU) Nr. 1174/2011 Rechtsfolgen nach sich (z. B. Geldbußen).
Zum anderen erlaubt der (völkerrechtliche) Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Vertrag) die Gewährung von Stabilitätshilfen an Krisenstaaten, die aber nur gegen Auflagen für den betreffenden Mitgliedstaat erfolgen sollen und in einem Memorandum of Understanding (MoU) festzuhalten sind, das die Kommission im Benehmen mit der EZB und dem IWF ("Troika") mit dem Staat aushandelt (Art. 13 Abs. 3 ESM-Vertrag).
Sowohl die länderspezifischen "Empfehlungen" auf der Grundlage des "Sixpack" als auch die Auflagen für Krisenstaaten in einem MoU können sozialpolitische Folgen haben und zu schwerwiegenden Eingriffen in Grundrechte der Arbeitnehmer führen. So sieht z. B. das MoU zwischen der EU und Portugal vom 17. 5. 2011 weitreichende Einschnitte des gesetzlichen Kündigungsschutzes (z. B. Reduzierung von Kündigungsabfindungen) und Begrenzungen der Befugnis zur Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns vor. Besonders betroffen ist auch das System der Kollektivverhandlungen: So verlangt das MoU, die Befugnis zur Allgemeinverbindlicherklärung von Kollektivverträgen zu begrenzen sowie eine Verlagerung von Kollektivverhandlungen von der Branchenebene auf die Unternehmensebene zu erleichtern. Portugal hat inzwischen im Wesentlichen dieses Reformprogramm, das zum Teil erhebliche Eingriffe in die Arbeitsbeziehungen mit sich bringt, durch Gesetz umgesetzt (z. B. Gesetz Nr. 53/2011 [Diário da República 2011, Nr. 198, 4636]).
Mit diesen Auflagen im Wege eines MoU greift die Union teilweise in Handlungsfelder ein, für die sie ausdrücklich keine Zuständigkeit besitzt. So schließt Art. 153 Abs. 5 AEUV explizit eine Kompetenz der EU für das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht und das Arbeitskampfrecht aus. Gewiss, die Vorschrift verbietet ihrem Wortlaut nach nur eine Harmonisierung auf diesen Gebieten, während es bei den länderspezifischen "Empfehlungen" und den Auflagen in einem MoU nur um besondere "Regelungen" für einzelne Staaten geht. Es ist jedoch nicht zu verkennen, dass diesen ein allgemeines Modell zugrunde liegt, das mit den Mitteln der neuen wirtschaftlichen Steuerung in den Mitgliedstaaten durchgesetzt werden soll. Dem Art. 153 Abs. 5 AEUV liegt aber der Gedanke zugrunde, dass eine EU-"Regelung" des Arbeitsentgelts oder des Arbeitskampfrechts insgesamt ausgeschlossen sein soll, unabhängig von der Rechtsform, der sich die EU bedient.
Überdies stellt sich die Frage nach der Einhaltung der Grundrechtecharta der EU (EGrCh). Vor allem Eingriffe in die Systeme der Kollektivverhandlungen müssen sich am Recht auf Kollektivverhandlungen und kollektive Maßnahmen (Art. 28 EGrCh) messen lassen. Immerhin bindet Art. 51 Abs. 1 EGrCh die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union an die EGrCh. Auflagen, die von Krisenstaaten etwa eine stärkere Verlagerung von Kollektivverhandlungen auf die Unternehmensebene verlangen, können dazu führen, dass gewachsene Strukturen kollektiver Arbeitsbeziehungen zerstört werden und der langfristige "Flurschaden" für das System der Kollektivverhandlungen in den betroffenen Ländern nicht mehr wieder gut zu machen ist. Schon deshalb dürften sich solche Eingriffe mit Blick auf Art. 28 EGrCh nicht rechtfertigen lassen. Die Union unterzieht sich nicht der Mühe, bei der Krisenbewältigung die im Raume stehenden Grundrechte gegeneinander abzuwägen. Die Krisenbewältigung scheint somit im grundrechtsfreien Raum zu erfolgen und bietet das Bild eines entfesselten Leviathans, dessen Bändigung noch aussteht.
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